Gespräch mit dem Lernexperten Simon Dückert von Cogneon
Heute kann ich mit Simon Dückert einen sehr interessanten Gast zum Interview begrüßen. Simon zähle ihn zu den führenden Lernexperten in Deutschland, der mit dem sogenannten lernOS und einer sehr vielgestaltigen und vor allem lebendigen Community von Lerninteressierten und -praktikern über breite Erfahrungen mit modernen Lernformen verfügt. Ich folge Simon seit langer Zeit auf Twitter und wir sind uns auch bei einem der Vor-Corona IOM-Summits über den Weg gelaufen. Anfang Juli 2022 ist er mit seinem Event, der #lernOS Convention 2022, voll durchgestartet. Darüber hinaus kann ich mit diesem Gespräch auch an aktuelle Diskussionen zum Lernen anknüpfen, die wir zum diesjährigen HR Innovation Day insbesondere mit Charles Jennings begonnen haben. Bereits an dieser Stelle herzlichen Dank dafür, dass ich Simon einige Fragen zur #lernOS Convention, zu seinen Aktivitäten und dem persönlichen Background stellen kann.
Peter: Vielen Dank, dass Du Zeit für dieses Interview gefunden hast und herzlichen Glückwunsch zur erfolgreichen #lernOS Convention.
Simon: Danke und vielen Dank für die Einladung in dieses Format.
Peter: Lieber Simon, könntest du Dich und Cogneon kurz vorstellen.
Simon: Mein Name ist Simon Dückert, ich bin verheiratet, habe eine Tochter, wohne in Nürnberg und habe in Erlangen Elektrotechnik mit Schwerpunkt Digitale Nachrichtentechnik studiert. Ich bin einer der vier Gründer von Cogneon, einem Unternehmen, das sich mit Wissensmanagement und der Entwicklung von Lernenden Organisationen. Zu unseren Kunden zählen hauptsächlich international tätige Großunternehmen in wissensintensiven Branchen. Bekannte Projekte sind z.B. Zusammenarbeit 2.0 bei Audi, der adidas Learning Campus, Bosch Learning Company oder DigitalTogether bei Siemens Healthineers.
Peter: Dein bekanntestes Projekt ist das sogenannte lernOS. Was verbirgt sich dahinter?
Simon: In unseren Strategietagen 2016 haben wir uns zu unserem 15-jährigen Bestehen gefragt, was wir in den nächsten 15 Jahren an großen Zielen erreichen wollen. Eine schwelende Unzufriedenheit war, dass viel Know-how zu Wissensmanagement-Themen wie z.B. Wissenslandkarten, Wissensstrategien, Wissensportalen, Wissensbewahrung mit Expert Debriefing, hybride Wissensarbeit etc. in über 340 Projekten verborgen liegt, davon die Welt aber nicht profitieren kann. Deswegen haben wir entschlossen, dieses Wissen zusammenzufassen und in Leitfäden entlang der drei Handlungsebenen des Wissensmanagement (Individuum, Team, Organisation) zu veröffentlichen. Ähnlich unserem offenen Wiki COPEDIA sollte das unter einer offenen Creative Commons Lizenz erfolgen. Als Namen haben wir „lernOS“ gewählt, weil das die Zukunftsform von Lernen in Esperanto ist. Das groß geschriebene „OS“ (wie bei iOS) deutet dabei auf die Bedeutung der Digitalität in der digital-vernetzten Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts hin.
Peter: Mit Cogneon stellt Ihr neben Beratungs- und Schulungsleistungen auch freie Materialien zur Verfügung. Warum freie Materialien?
Simon: Bei so komplexen Vorhaben wie der Entwicklung einer Lernenden Organisation glauben wir nicht an „One-Size-Fits-All-Ansätze“. Deswegen sind die lernOS Materialien so gestaltet, dass jede und jeder sie kostenfrei verwenden und einfach an die eigenen Rahmenbedingungen anpassen kann. Erst wenn bei der Umsetzung Hilfe benötigt wird, können wir kontaktiert werden und in Form von Maßnahmen und Projekten unterstützen. Im Prinzip ist der Ansatz vergleichbar mit Open-Source-Geschäftsmodellen im Softwarebereich (z.B. Wordpress, Moodle, RocketChat).
Peter: Anlass unseres Gesprächs ist die nach meinen Beobachtungen sehr erfolgreiche #lernOS Convention am 5./6. Juli 2022. Was waren hier aus Deiner Sicht die Highlights?
Simon: Nachdem die lernOS Convention pandemiebedingt die letzten beiden Jahre rein online stattgefunden hat, haben wir uns dieses Jahr im Orga-Team unter dem Motto „perfectly hybrid“ vorgenommen, ein Veranstaltungskonzept zu entwerfen, bei dem Vor-Ort- und Online-Teilnahme auf „auf Augenhöhe“ stattfinden kann. Das ist uns nach unserem eigenen Empfinden und auch dem Empfinden der Teilnehmenden (Net Promoter Score der Veranstaltung: 79) sehr gut gelungen. Einen schönen Einblick in die Veranstaltung bietet das Abschlussvideo. Neben vielen weiteren Highlights finde ich sehr gut, dass mit Julia Bangerth von der DATEV das erste Mal ein Vorstandsmitglied auf der loscon gesprochen hat und dass mit Leif Edvinsson (Knowledge Society), Celine Schillinger (Un-Lead) und Harold Jarche (Working = Learning) auch viele internationale Beiträge mit im Programm waren. Wir werden für 2023 auf jeden Fall an dem hybriden Konzept festhalten und Details optimieren.
Peter: Besonders gefallen haben mir hier die Lightning Talks. Wie ist die Idee dazu entstanden?
Simon: Wie viele anderen Formate der Erfahrungs- und Wissensvermittlung (z.B. Barcamps, Hackathons, Birds of a Feather, Meetups) kommen auch die Lightning Talks aus dem IT-Bereich mit seiner geringen „Halbwertszeit“ von Wissen. Ich bin schon sehr lange im Chaos Computer Club aktiv. Dort habe ich beim jährlichen Chaos Communication Congress die Lightning Talks kennen gelernt und auch selber einen Talk zu lernOS gehalten. Ähnlich wie bei Ignite Talks oder Pecha Kucha Talks sind die Lightning Talks sehr kurz (5 Minuten). Dadurch kann in kurzer Zeit (1 Stunde) eine Vielfalt von Themen (10 Talks) angerissen und im Nachgang vertieft werden.
Peter: Wie ich gesehen habe, hast Du viel Wert auf die hybride Durchführung des Events gelegt. Was ist nötig, um Events dieser Art erfolgreich hybrid durchzuführen? Die Rede war hier auch von einem Hybrid Meeting Kit.
Simon: Es gibt Mitglieder in der lernOS Community, die im Ausland wohnen oder aus anderen Gründen nicht für zwei Tage vor Ort kommen können oder wollen. Mit der Veranstaltung verfolgen wir einen inklusiven Ansatz, so dass wir Online-Teilnehmende auf keinen Fall ausschließen wollen. In der Programmplanung haben wir von Anfang an Wert darauf gelegt, dass sich Vor-Ort- und Online-Teilnehmende gleich behandelt fühlen (z.B. Vorstellungsrunde im Wechsel Online/Vor Ort). Außerdem hatten wir die Rolle des „Remote Buddy“ definiert, der sich explizit um die Fragen und Anliegen der „Onliner“ gekümmert hat. Ein gemeinsames Slack-Netzwerk hat die Leute unabhängig von Ort und Zeit per Chat miteinander verbunden. Das Hybrid Meeting Kit (HMK, https://wiki.cogneon.de) haben wir in den Session/Workshop-Räumen eingesetzt. Für die hybride Teilnahme ist es wichtig, dass der Raum vor Ort gut zu sehen ist und die Redner_innen gut zu hören sind. Das HMK hat dafür dreh- und schwenkbare Kameras sowie Funkmikrofone, die in Schaumstoffwürfel verpackt im Raum hin und her geschmissen werden kann, um das Mikrofon nahe an die sprechenden Personen zu bekommen.
Peter: Ich kenne Dich auch aufgrund der breiten Arbeit mit und in Communitys. Könntest Du eine davon, die Learning Circle Experience, etwas näher vorstellen?
Simon: Ein Modus mit den lernOS Leitfäden zu lernen ist, sich in sog. Learning Circle (Gruppe von 4-5 Personen) über einen Zeitraum von 3 Monaten (dem sog. Learning Sprint) zusammenzufinden und gemeinsam 1h pro Woche zu Lernen. Bei einer Learning Circle Experience (LCE) laufen viele solcher Learning Circle parallel durch einen Lernpfad und tauschen sich auch untereinander aus. Wir bieten selbst solche LCEs an (z.B. zu Podcasting), es gibt aber mittlerweile auch Unternehmen wie Continental, DATEV oder SAP, die LCEs intern oder sogar gemischt intern/extern durchführen (Beispiel SAP).
Peter: Mein Fokus liegt seit einiger Zeit verstärkt auf den HR-Fragen der Deskless bzw. Blue Collar-Worker. Gibt es hier Besonderheiten hinsichtlich des Lernens bzw. des Umgangs mit Wissen?
Simon: In dem Bereich habe ich nicht so viel Erfahrung, ich sehe aber, das zwei kritische Faktoren Zugang und Zeit sind. Zum einen verfügen direkte Mitarbeiter_innen oft nicht über betriebliche Smartphones oder Laptops, so dass sie keinen barrierefreien Zugang zu den Intranets ihrer Organisationen haben. Ansätze wie die Frontline-Worker-Lizenzen (F-Lizenzen) bei Office 365 oder Bring You Own Device (BYOD) können hier Abhilfe schaffen, sind aber noch nicht in Breite verfügbar. Außerdem ist es gerade bei Schichtarbeit oder der Arbeit in einer Filiale schwierig, Zeiten fürs eigene Lernen einzuplanen. Hier sollten sich die Organisationen verstärkt Gedanken machen, wie an dieser Stelle lernförderliche Rahmenbedingungen geschaffen werden können.
Peter: Ich denke, dass Du - insbesondere mit Blick auf die lernOS Convention - der richtige Partner für die folgende Frage bis. Was sind aus Deiner Sicht derzeit die relevanten Trends im Corporate Learning?
Simon: Anders als du forsche ich nicht in dem Bereich und kann die Themen daher nur aus der praktischen Erfahrung und meinem Wirkungsfeld großer Organisationen beurteilen. Ich sehe insbesondere vier Trends:
- Das informelle Lernen gewinnt neben dem formellen Lernen zunehmend an Bedeutung. Ansätze wie beispielsweise „Learning from Experts“ (LEX) der Telekom stehen gleichbedeutend neben Kursen und Seminaren
- Das selbstgesteuerte Lernen rückt immer mehr in den Mittelpunkt, nicht mehr die Führungskräfte geben Lernpfade vor, sondern Wissensarbeiter_innen suchen aus
- die Lerninhalte stammen zunehmend auch aus externen Quellen und werden weniger oft selber erstellt. Das bringt eine Verschiebung von der Planung und Erstellung von Lerninhalten hin zur „Learning Content Curation“ (Zusammenstellung von bereits bestehenden Inhalten) mit sich
- die Intranets von Organisationen ähneln immer mehr dem Internet, sie sind weniger zentralistisch und bieten den Mitarbeitenden viele Möglichkeiten (eigene Homepage, eigener Blog, eigener Podcast, eigener vLog etc.).
Damit wird möglich, was Jane Hart in ihrer Top-Tools-for-Learning jährlich wieder neu herausfindet: gelernt wird weniger in dedizierten Lernsystemen, sondern viel mehr mit Suchmaschinen, Videoportalen, Sozialen Netzwerken, Wikis & Co. – Zeit, diese Erkenntnis auch in Intranets konsequent umzusetzen.
Peter: Ganz herzlichen Dank für das Gespräch und viele Grüße nach Nürnberg.
Simon: Danke für die Gelegenheit, hier von meinen Gedanken berichten zu können.
Mein Gesprächspartner Simon Dückert ist seit über 20 Jahren im Wissensmanagement tätig. Nach dem Studium der Elektrotechnik an der Universität Erlangen-Nürnberg arbeitete er am Fraunhofer Institut für Integrierte Schaltungen und war dort mit der Einführung von Wissensmanagement befasst. Aus diesen Aktivitäten ist ein ganzheitliches, prozessorientiertes und ISO-9001-kompatibles Wissensmanagement-Modell entstanden, das heute als Cogneon Wissensmanagement-Modell in der Beratung eingesetzt wird. Er ist als Berater und Coach hauptsächlich bei Kunden in Engineering-Branchen zu Themen wie Wissensmanagement, Lernende Organisation und Management 2.0 aktiv. Er ist der Initiator von lernOS, dem offenen „Betriebssystem“ für Lebenslanges Lernen und Lernende Organisationen.