Fünf Herausforderungen für Führungskräfte virtueller Teams und jeweils zwei Tipps zum Umgang damit.
In den letzten Wochen war ich an mehreren Online-Diskussionen zum Themenbereich „Mobile Arbeit/Digitale Zusammenarbeit“ beteiligt. Insbesondere beim #hrtalk am 4.September 2020 mit der geschätzten Barbara Josef und Björn Negelmann von KongressMedia ist mir erneut die ganze Widersprüchlichkeit dieser Thematik bewusst geworden. Auch wenn nach Morgan Stanley in Deutschland 74% der Büroangestellten wieder zurück in ihren Unternehmen sind (was ich arg bezweifle), bleibt das Thema virtuelle Zusammenarbeit auf der Tagesordnung. Für die derzeit unzähligen Statements, Diskussionen und Studien zu diesem Thema werden verschiedene Zugänge, wie die Meinungen von Wissenschaftlern, Praktikern, Marktforschern etc., benutzt. Aktuell jagt zu diesem Thema eine "Studie" die andere. Wie schwer es ist, die daraus entstehenden Erkenntnisse zusammenzuführen und mit den eigenen Erfahrungen zu verknüpfen erlebe ich nahezu täglich. Immer wieder erfahre ich dabei die vielen Widersprüche, die die digitale Zusammenarbeit mit sich bringt. Nur einige davon möchte ich hier nennen:
Mobile Arbeit bzw. digitale Zusammenarbeit
- wird nach wie vor eher als technische und weniger als kulturelle und organisatorische Herausforderung behandelt
- ist Zusammenarbeit auf Distanz, die aber häufig auch eine erwünschte/ unerwünschte Nähe mit sich bringt
- ermöglicht eine hohe Autonomie, bringt aber oft auch den Wunsch nach stärkerer Koordination, Führung und Kontrolle mit sich
- erfordert intensive und regelmäßige Kommunikation, die sehr oft nur formal und wenig informal umgesetzt wird
- ermöglicht neue, z.T. auch innovative, Formen der Zusammenarbeit, führt aber in einer Reihe von Fällen zu sozialer Isolation und Gefahren für die Psyche der Mitarbeitenden
Qualität und möglicher Nutzen der digitalen Zusammenarbeit hängt aus meiner Sicht davon ab, wie mit diesen Widersprüchen ganz konkret umgegangen wird. Damit sind zumeist kulturelle, aber auch organisatorische Fragen angesprochen, die aktuell viel zu selten und wenn, dann auch zu unspezifisch diskutiert werden. Ich will mich hier vor allem auf organisatorische und Führungsthemen digitaler Zusammenarbeit fokussieren, weil hier ein aktueller Artikel, an dem erneut Eduardo Salas beteiligt war, für Klarheit sorgt. Nach dem Artikel „Today's virtual teams: Adapting lessons learned to the pandemic context“, den ich hier vorgestellt habe, hat Salas gemeinsam mit Denise L. Reyes und Miguel Luna (alle RICE University Texas) erneut instruktive Einblicke in den Umgang mit diesen neuen Arbeits- und Führungsformen geliefert. Unter der Überschrift „Challenges for team leaders transitioning from face-to-face to virtual teams“ werden nützliche Hinweise zur digitalen Zusammenarbeit gegeben. Die Autoren gehen dabei von zwei aus ihrer Sicht wichtigen Aspekten virtueller Zusammenarbeit aus. Der erste Aspekt umschreibt die Schwierigkeiten beim Umgang mit Verantwortung unter virtuellen Bedingungen. Sind einige Teammitglieder fähig, autonom zu arbeiten, verlieren andere den Überblick, wenn sie nicht eng geführt werden. Beim zweiten Aspekt geht es darum, das Gefühl der Verbundenheit mit der Organisation aufrechtzuerhalten. Es kann passieren, dass Teammitglieder sich von der Organisation abgekoppelt oder von anderen Menschen isoliert fühlen, was negative Auswirkungen für die psychische Gesundheit mit sich bringen kann.
Im Zentrum des Artikels steht die Beschreibung von fünf wichtigen Herausforderungen für Führungskräfte von virtuellen Teams. Hervorzuheben ist, dass die Autoren praktische Tipps geben, wie mit diesen Herausforderungen unter virtuellen Bedingungen konkret umgegangen werden kann.
(1) Herausforderung, weiterhin produktiv zu sein
Virtuelle Zusammenarbeit unterliegt auch Einflüssen, die wenig oder nicht mit der konkreten Arbeitsaufgabe zusammenhängen. Hierzu zählen die individuelle Arbeitsweise, das Engagement des Mitarbeitenden, die konkreten Bedingungen am Ort der Arbeit, wie der Arbeitsplatz, aber auch die familiäre Situation. Vorliegende Erkenntnisse zeigen, dass es hier schnell zu Überlastungen kommen kann. Wie kann mit dieser Herausforderung umgegangen werden? Hier liefern die Autoren konkrete Tipps.
Tipp 1: Meetings sollten auf neue Art, d.h. mit einem Check-In, begonnen werden.
Exkurs: Jedes Teammitglied bekommt im Check-In Zeit den anderen über seine derzeitige Situation Auskunft zu geben. Je nach Situation kann dies zwei, drei Minuten oder länger dauern. Mögliche Fragen sind: Was sollten die anderen zu Beginn des Meetings über mich wissen? Mit welchen Gedanken bin ich zu Beginn des Meetings beschäftigt? Wie geht es mir im Moment?
Tipp 2: Organisieren bzw. verhindern, dass E-Mails oder Anrufe nach der Arbeitszeit versandt werden bzw. erfolgen.
(2) Anwenden eines gemeinsam geteilten mentalen Modells
Hier geht es um ein gemeinsames Verständnis des zu erreichenden Ziels und wie die einzelnen Rollen zur Erreichung dieses Ziels verteilt sind. Kommunikationsdefizite können bei virtueller Zusammenabeit schnell dazu führen, dass Redundanzen entstehen, weil Unklarheiten bei der Aufgabenverteilung existieren. Führungskräfte sollten hier entsprechend kommunizieren.
Hierzu die folgenden Tipps.
Tipp 3: Tägliche Check-in-Anrufe mit dem gesamten Team durchführen, damit jeder über die Aufgaben der anderen, die aktuellen Prioritäten und die Auswirkungen auf das Gesamtziel des Teams informiert ist.
Tipp 4: Nutzung eines Online-Projekt- und Aufgaben-Management-Systems, damit jeder über den Bearbeitungsstand der Aufgaben und andere Updates informiert ist.
(3) Ermöglichen, dass sich die Teammitglieder mit ihrem Team und dem Unternehmen verbunden fühlen
Nicht überraschend ist, dass sich Teammitglieder im virtuellen Raum schnell abgekoppelt fühlen. Hier kann vermehrte Kommunikation auch zu Themen, die über die konkreten Arbeitsaufgaben hinausreichen, helfen. Dies ist insbesondere bei jüngeren Teammitgliedern wichtig. Bei Teammitgliedern mit einem geringeren Informationsbedürfnis sollten Führungskräfte ihre Erreichbarkeit signalisieren.
Tipp 5: Laufend Einzelgespräche führen, die nicht nur aufgabenbezogen, sondern auch an den individuellen Bedürfnissen ausgerichtet sind.
Tipp 6: Entwickeln, Anwenden und Fördern lustiger, nicht arbeitsbezogener virtueller Formate (z.B. virtuelle Happy Hours), um diejenigen mitzunehmen, die sich isoliert fühlen.
(4) Dafür sorgen, dass die Teammitglieder Anerkennung für ihre Arbeit spüren
Anerkennung für ihre Anstrengungen führt bei den Teammitgliedern zu höherem Engagement und zu höherer Loyalität zum Team. Unter virtuellen Bedingungen Anerkennung zu zeigen ist eine Anforderung an sich, weil verbale und nonverbale Signale fehlen. Führungskräfte sollten deshalb häufiger und regelmäßiger kommunizieren.
Tipp 7: Ein oder zweimal je Woche Mails an die Teammitglieder versenden, um Erreichtes und die Ziele zu bewerten.
Tipp 8: An die nächsthöheren Vorgesetzten E-Mails mit Informationen über Leistungen und Ziele des Teams (mit Kopie an die Teammitglieder) schicken, um die Teammitglieder daran zu erinnern, wie wichtig ihre Arbeit ist.
(5) Sicherstellen, dass sich die Teammitglieder psychisch sicher fühlen
Unter virtuellen Bedingungen kann es schneller als bisher zu Missverständnissen kommen. Für Mitarbeitende kann es wichtig sein, Probleme ohne Angst ansprechen zu können. Für Führungskräfte ist es hier wichtig, sowohl individuell mit den Teammitgliedern zu kommunizieren als auch den Austausch zwischen den Teammitgliedern aktiv zu fördern,
Tipp 9: Für kleinere, voneinander abhängige Aufgaben können jeweils Treffen für Einzelpersonen vorgeschlagen werden.
Tipp 10: Mit jedem neuen Teammitglied einzeln treffen, um einen abgeschlossenen, weniger einschüchternden Raum zu bieten, in dem diese alle Fragen oder Bedenken äußern können.
Zum Thema mentale Sicherheit liegt mittlerweile auch ein interessanter Beitrag von Amy C. Edmondson und Gene Daley vor. Sie verweisen dabei auf bekannte Werkzeuge in Online-Meetings die dabei helfen können, mentale Sicherheit zu vermitteln. Dazu gehören die Handheben-Funktion, Ja/Nein-Fragen, Abstimmungen, die Chat-Funktion, Breakout Rooms sowie der bewusste Einsatz der Video- und Audio-only-Möglichkeiten. Sie verweisen in ihrem Beitrag auch auf die Bedeutung der Vor- und Nachbereitung von virtuellen Meetings durch die Führungskräfte. Ihnen ist zuzustimmen, wenn sie auf die Bedeutung der richtigen Anwendung dieser Werkzeuge für Engagement, Kollegialität, produktiven Dissens und das Entstehen von Ideen hervorheben. Psychische Sicherheit kann auch aus der sogenannten taziten Koordination, erwachsen. Darunter verstehen Marco Minervini, Darren Murph and Phanish Puranamein gemeinsames Verständnis von Arbeitsnormen und -kontext, durch das eine Koordination ohne direkte Kommunikation ermöglicht wird. Die Koordination erfolgt hier durch die Beobachtung der Handlungen anderer Teammitglieder und die Fähigkeit, auf der Basis gemeinsamer Normen vorherzusagen, was sie tun und brauchen werden.
Bemerkenswert an den zuletzt genannten Beiträgen ist für mich die Bedeutung und der Umgang mit Fragen der psychischen Sicherheit. Hinzu kommen das gemeinsame Verständnis der Aufgabe, tazite Koordination und die Verbundenheit mit der Organisation und dem Team bei virtueller Zusammenarbeit.
Mit ihren fünf Herausforderungen bieten Reyes et al. einen verständlichen Rahmen für die Bewertung und aktive Gestaltung neuer Formen der Zusammenarbeit, der gleichermaßen organisatorische und psychologische Aspekte enthält und umsetzbar aufbereitet. Damit können einige Widersprüche digitaler Zusammenarbeit konstruktiv aufgelöst werden.
Links bzw. Informationen zu den genannten Beiträgen
Challenges for team leaders transitioning from face-to-face to virtual teams
von Denise L. Reyes, Miguel Luna, Eduardo Salas
In press as: D.L. Reyes, et al., Challenges for team leaders transitioning from face-to-face to virtual teams, Organ Dyn (2020),
How to Foster Psychological Safety in Virtual Meetings
von Amy C. Edmondson, Gene Daley
https://hbr.org/2020/08/how-to-foster-psychological-safety-in-virtual-meetings
Remote Work Doesn’t Have to Mean All-Day Video Calls
von Marco Minervini , Darren Murph, Phanish Puranam
https://hbr.org/2020/09/remote-work-doesnt-have-to-mean-all-day-video-calls