"Viel Altes im Neuen" oder kommt es zu „My next boss may be a dashboard“?
Tweets wie dieser oder auch extreme Aussagen, wie „Your next boss may be a smart dashboard“ verdeutlichen die Bandbreite der Diskussion zu digitaler Führung. Sie machen mich unruhig und erinnern mich - einen typischen Digital Immigrant - an meine Überlegungen zur andauernden Digitalisierung und zu den Auswirkungen auf die Führung und Zusammenarbeit von Mitarbeitern. Offensichtlich bin ich mit Überlegungen dieser Art nicht allein, denn die Meinungen zur digitalen Führung sind mittlerweile in ihrer Vielfalt unüberschaubar und stellenweise auch Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit. Trotzdem zeigt sich in der Anwendung digitaler Hilfsmittel bei der Führung von Mitarbeiter recht häufig, dass die betriebliche Praxis einer umfassenden wissenschaftlichen Betrachtung vorauseilt.
Was bedeutet eigentlich digitale Führung? Denke ich an Diskussionen zu Beginn der digitalen Führung zurück fallen mir beschwichtigende Äußerungen, wie „digitale Hilfsmittel oder Social Media sind doch nur das „neue Telefon“, ein. Diese Fokussierung auf Kommunikation lag damals auf der Hand, war aber zu kurz gedacht, weil digitale Führung natürlich mehr als nur neue Medien zur Kommunikation umfasst. Heute existieren demgegenüber eine Reihe von Erklärungen, wie die von Petry (2017), der Digital Leadership als „adäquate Führung im digitalen Zeitalter“ beschreibt. Andere (u.a. van Dick 2016 et al.) heben den Einsatz digitaler Werkzeuge zur Einflussnahme auf Mitarbeiter/innen und zur Überbrückung der Distanz zwischen den Akteuren des Führungsprozesses hervor. Eine Analyse der gegenwärtig für die Führung angewandten digitalen Hilfsmittel lässt ein breites Spektrum erkennen. Diese Werkzeuge waren Gegenstand einer Pilotbefragung, deren Ergebnisse hier zu finden sind. Mit diesen Hilfsmitteln allein lässt sich digitale Führung jedoch nicht erklären. Wichtiger ist es, die Wirkungen der Digitalisierung bzw. der digitalen Werkzeuge auf die Beziehungen zwischen den verschiedenen Akteuren des Führungsprozesses, die Arbeitsweisen und Strukturen in den Unternehmen sowie den Erfolg laufender Veränderungen zu betrachten.
- Digitalisierung bringt massive Änderungen in den Beziehungen zwischen den Akteuren mit sich. Digitale Hilfsmittel machen Informationen umfassender verfügbar und eröffnen den Beteiligten neue Möglichkeiten zur gegenseitigen Einflussnahme. Kommunikation erfolgt weit stärker als bisher Distanzen überwindend bzw. hierarchie- und bereichsübergreifend. Meinungen und Bewertungen finden Eingang in die tägliche Arbeit. Die Akteure können sich dadurch aus dem gewohnten hierarchischen Kontext lösen. Im Ergebnis kann es zu einem Kontrollverlust bei den Führungskräften und zur Statusnivellierung zwischen den Akteuren kommen. Dies sind die Gründe dafür, dass die konkreten Beziehungen zwischen den Akteuren wichtiger werden. Im Ergebnis bringen diese Entwicklungen neue Anforderungen an die Fähigkeiten der Führungskräfte und ein neues Rollenverständnis als „Vernetzer und Ermöglicher“ bzw. „Entwickler und Begleiter“ mit sich (Hofmann/Wienken 2018).
- Durch die Digitalisierung ändern sich Strukturen und Arbeitsweisen in den Unternehmen. Hier entstehen zunehmend neue, oft digital ermöglichte kollaborative Formen der Führung und Zusammenarbeit, wie Netzwerke von Individuen und Teams sowie Communities. Im Zusammenhang mit anderen Entwicklungen wie „New Work“ kommt es zu neuartigen Initiativen von Mitarbeiter/innen, die in erster Linie innovationsgetrieben sind und auf Verbesserungen von Führung und Zusammenarbeit zielen. Unternehmen reagieren darauf, indem sie Strukturen stellenweise anpassen und zahlreiche dieser Initiativen in die Unternehmen integrieren. In der Folge entstehen hybride Arbeitskulturen mit wechselnden Anforderungen an die handelnden Akteure (Ciesielski/Schutz 2016).
- Viele der Diskussionen zeigen deutlich, dass die digitale Führung als der maßgebliche Erfolgsfaktor der laufenden Veränderungen in den Unternehmen allgemein und für die Digitalisierung im Besonderen angesehen wird. Lorenz (2018) weist der digitalen Führung die Aufgabe zu, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche digitale Transformation und damit die nachhaltige Existenz von Organisationen zu schaffen. Das Wechselverhältnis von digital ermöglichter Führung auf der einen und digitaler Führung als Erfolgsfaktor der Digitalisierung auf der anderen Seite steht und fällt mit der Berücksichtigung der Erwartungen und Verhaltensweisen der Akteure. Diskussionen zur digitalen Führung zeigen, dass diese häufiger mit den konkreten Akteuren bzw. der Führung von Mitarbeiter/innen als mit der Anwendung „digitaler Technologien“ identifiziert wird. In Folge dessen rückt die Führung von Mitarbeiter/innen stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung.
Kane et al. (2019) gehen nicht von einer gänzlich neuen, digitalen Führung aus, sondern betonen die Kombination ("Blending") von neuen und bewährten Führungsfähigkeiten. Zu den neuen Fähigkeiten werden eine transformative Vision und eine vorwärtsgewandte Perspektive, Geschick beim Umgang mit digitalen Hilfsmitteln und Anpassungsfähigkeit der Führungskräfte gezählt. Zu den bewährten Fähigkeiten gehört es, klar zu kommunizieren, was die Veränderungen bewirken. Die Führungskräfte müssen die Verantwortung für die Veränderungen übernehmen, diese sollte nicht delegiert werden. Schließlich ist es den Mitarbeitern zu ermöglichen, in eigener Verantwortung unter digitalen Bedingungen zu agieren. In diesem Sinne ist Digitalisierung „sowohl eine Top-Down als auch eine Bottom-Up-Aufgabe“ (Kane et al. 2017). Damit wird deutlich, dass sich bei digitaler Führung viele der in der Vergangenheit oft gestellten Fragen nach „guter“ Führung erneut stellen. Dies schließt beispielsweise Forderungen nach stärkerer Information der Mitarbeiter sowie nach kooperativer Zusammenarbeit und Beziehungsqualität (Wunderer zuletzt 2011), persönlicher Verantwortlichkeit (Taschenbuch Mensch und Arbeit 1991), nach Führen und Führen lassen (Neuberger 2001) im Sinne von Autonomie und Beteiligung der Mitarbeiter sowie Integrität und Dialogorientierung (Jetter/Skrotzki 2005). Es handelt sich um Aspekte der Führung die zum großen Teil leicht mit digitalen Mitteln umgesetzt werden können. Mit einem entscheidenden Unterschied: Wurde der Wunsch nach guter Führung bislang eher als Appell verstanden - so ist "gute" Führung heute zunehmend für den Erfolg digitaler Führung unabdingbar. "Alte" Führung und gewohnte Formen der Zusammenarbeit lassen sich nur sehr schwer "digital" fortschreiben. Dies ist nicht nur auf die neuen technischen Möglichkeiten zurückzuführen, sondern hängt auch mit den geänderten Erwartungen und Fähigkeiten der neuen Mitarbeitergenerationen zusammen.
Die Digitalisierung prägt Beziehungen, Arbeitsweisen und Strukturen. Ihr Erfolg hängt von der Umsetzung der digitalen Führung ab. Erfolgsfaktor der digitalen Führung ist wiederum eine konsequente Mitarbeiterorientierung. Diese wechselseitigen Abhängigkeiten erschweren die Betrachtung digitaler Führung und bringen die Gefahr einer Überladung der digitalen Führung mit sich. Dies zeigt sich beispielhaft in der folgenden Beschreibung digitaler Führung. Nach dieser umfasst digitale Führung „das Führen über Distanz via digitaler Kommunikationsmedien“, jedoch nicht nur die Mittel der praktischen Umsetzung von Führung, sondern auch die Adressierung der mit der digitalen Transformation verbundenen geschäftlichen, organisatorischen und personellen Anforderungen (...) mit der aktiven Förderung von Innovation, dem Meistern der Unsicherheiten in Bezug auf die Marktsituation, dem Umgang mit einer deutlich selbstbewussteren Mitarbeiterschaft, der stringenten Ausrichtung auf den gemeinsamen „Purpose“ bei gleichzeitig kontinuierlicher Weiterentwicklung der Mitarbeitenden zur Bewältigung der Veränderlichkeit der Wettbewerbsumwelt (Hofmann/Wienken 2018). Es darf bezweifelt werden, dass digitale Führung dieses umfassende Paket an Forderungen letztlich erfüllen kann. Hier scheint eine konsequente Differenzierung zwischen digitaler Führung von Mitarbeiter und von Unternehmen angezeigt zu sein. Die hier deutlich erkennbare Überladung könnte es mit sich bringen, dass die Führung von Mitarbeitern nur unzureichend beachtet und umgesetzt wird. Die digital einfache Umsetzung bzw. Beantwortung der erwähnten klassischen Führungsfragen wird ggf. erschwert sowie das Funktionieren digitaler Führung behindert.
In der digitalen Führung existiert sehr viel Altes im Neuen. Bei der Betrachtung digitaler Führung ist bei aller Komplexität sowohl eine Verengung auf technologische Fragen („My boss is my dashboard“) als auch die Überladung des Begriffes im Sinne einer „Adressierung“ aller Fragen der digitalen Transformation zu vermeiden. Beides kann ein praxisorientiertes Verständnis behindern und in der Folge eine mangelnde Akzeptanz mit sich bringen. Digitale Führung ist zuallererst Führung von Mitarbeitern - wenn auch in einem deutlich geänderten Beziehungs- und Rollensetting. Digitale Führung wird auch nicht im Selbstlauf funktionieren, sondern ist technisch und organisatorisch bewusst zu ermöglichen. Dabei muss durch die Führungskräfte Verantwortung übernommen und digitale Fähigkeiten müssen vermitteln werden. Digitale Führung eröffnet die Möglichkeit, bewährte Führung mit neuen Mitteln in einem geänderten Umfeld zu realisieren. Dies setzt neben einem grundlegenden Verständnis von Führung auch das Bewusstsein voraus, dass mit neuen digitalen Tools das Gleiche im Sinne von besserer Führung und Zusammenarbeit erreicht werden kann. Wird dies erkannt und umgesetzt, wird digitale Führung zum Erfolgsfaktor der laufenden Veränderungen.
Ausgewählte Quellen und Linkbits:
Ciesielski, M. A., & Schutz, T. (2016). Digitale Führung - Wie die neuen Technologien unsere Zusammenarbeit wertvoller machen. Berlin: Springer.
Hofmann, J./Wienken, V. (2018). Digital Leadership. Führung in der digitalen Transformation
Forum Digital Leadership 2018, Stuttgart. http://publica.fraunhofer.de/eprints/urn_nbn_de_0011-n-5040742.pdf abgerufen am 15. Juli 2019
Kane, G.C/Phillips, A.N./Copulsky, J.R./Andrus, G.R. (2019). The Technology Fallacy (Management on the Cutting Edge). Cambridge/London.
Kane et al. (2019). How Digital Leadership Is(n’t) Different.
https://sloanreview.mit.edu/article/how-digital-leadership-isnt-different/ abgerufen 15. Juli 2019
Lorenz, M. (2018). Digitale Führungskompetenz - Was Führungskräfte von morgen heute wissen sollten. Wiesbaden: Springer.
Petry, T. (2016) Digital Leadership: Erfolgreiches Führen in Zeiten der Digital Economy. Freiburg: Haufe.
van Dick et al. (2016). Studie "Digital Leadership"
https://www.dgfp.de/fileadmin/user_upload/DGFP_e.V/Medien/Publikationen/2012-2016/Digital_Leadership_Studie.pdf abgerufen am 15. Juli 2019